Beim Thema Neophyten scheiden sich die Geister: Einige Botaniker, viele Laien und Landnutzer betrachten Neophyten als eine Bereicherung der heimischen Flora und Fauna. Naturschützer hingegen befürchten einen Verlust der Biodiversität.
Die Debatte um Neophyten wird teils sehr pauschal und emotional geführt.
1. Problemfaktor Wissensstand: Die Forschung weiß immer noch zu wenig über das Ausmaß und die Auswirkungen neuer Arten. Das erschwert deren Bewertung und gibt Raum für Spekulationen. Diese reichen vom Ressentiment bis hin zur Verklärung.
2. Problemfaktor Nutzen: Verschiedene Akteure haben im praktischen Umgang mit Neophyten ganz verschiedene Interessen: So sind Neophyten für die einen ein Handelsgut, andere hingegen sehen hierin die Ursache für einen ökonomischen Schaden.
3. Problemfaktor Zeit: Zwischen dem Zeitpunkt der Einführung bzw. Einschleppung der Neophyten einerseits sowie ihrer Massenausbreitung andererseits liegt meist eine Zeitverzögerung. Bei Gehölzen sind dies z. B. cirka 150 Jahre – und das erschwert es, die Neophyten hinsichtlich ihrer potenziellen Invasivität zu bewerten. Insofern lässt sich heute noch gar nicht einschätzen, welche – unter Umständen auch invasiven – Effekte die derzeitige massenhafte Einführung vor allem von Zierpflanzen in Zukunft haben wird.
Viele Neophyten wurden als Nutzpflanzen eingeführt, d. h. sie haben einen positiven wirtschaftlichen oder ästhetischen Effekt. Wenn sie verwildern führt dies zu einer Bereicherung der heimischen Flora. Darüber hinaus stellen sie eine zusätzliche Nahrungsquelle für Insekten dar. Sie sind vielfach besser als heimische Arten in der Lage, mit extremen Standortbedingungen an Verkehrswegen und in Siedlungen zurecht zu kommen und erbringen damit wichtige Ökosystemdienstleistungen. Es ist denkbar, dass Neophyten eine positive Rolle bei den ducrh den Klimawandel verursachten Ökosystemveränderungen spielen könnten.
Neophyten sind Zeugen der menschlichen Kulturgeschichte. In ihren Heimatländern sind viele der Neophyten wichtige Kultur- oder Heilpflanzen.
Einige Neophyten haben nachweislich negative ökologische, gesundheitliche beziehungsweise wirtschaftliche Auswirkungen. Viele Naturschützer sind allen Neophyten gegenüber skeptisch eingestellt, weil sie befürchten, dass diese Arten zukünftig negative Auswirkungen haben könnten.
Gestützt wird dieses Misstrauen durch die Tatsache, dass sich die meisten Neophyten erst nach einer langen Eingewöhnungsphase, einer sogenannten Lag-Phase, stark ausbreiteten und als invasiv erwiesen.
So wurde z.B. die Beifuß-Ambrosie schon 1860 in Einzelexemplaren bei Hamburg beobachtet. Lange Zeit war diese einjährige Art ein relativ seltenes und unbeständiges Unkraut auf stark gestörten Standorten. Erst seit Anfang der 1990er Jahre werden zunehmend Bestände beobachtet, die sich stark vermehren und negative gesundheitliche Auswirkungen haben.
ESER, U. (1999): Der Naturschutz und das Fremde: ökologische und normative Grundlagen der Umweltethik. Campus Forschung Band 776. Campus-Verl., Frankfurt/Main u.a. 266 S. >>
KOWARIK, I. (2010): Biologische Invasionen : Neophyten und Neozoen in Mitteleuropa. Ulmer, Stuttgart 492 S. >>
STORL, W.-D. (2012): Wandernde Pflanzen: Neophyten, die stillen Eroberer. Ethnobotanik, Heilkunde und Anwendungen. AT Verlag, 320 S. >>Film des Autors, >>Internetseite des Autors
WEISS, V. (2009): Die Querfront der Fremdekräuterhasser und Gehölzrassisten – Die alltägliche Evolution um uns. S. 442-460 in: K. GAUGER (ed.): Diktynna. Jahrbuch für Natur und Mythos 2009, Edition Arnshaugk, München. pdf
Um die Bewertung von Neophyten zu versachlichen, hat KORINA für Sachsen-Anhalt eine landesspezifische Schwarze Liste der Neophyten erarbeitet.
11.1 Der Neobiota-Diskurs ist von jeder Art auch unterschwelliger Fremdenfeindlichkeit frei zu halten. Im Naturschutz und im Alltag sollte auf eine Sprache verzichtet werden, die einen solchen grundsätzlich xenophoben Eindruck weckt oder bestärkt.
11.2 Der Neobiota-Diskurs sollte sich insbesondere in Mitteleuropa der „Haltet-den-Dieb“-Gefahr bewusst sein, wo die Debatte dazu beiträgt, von anderen, gravierenderen Problemfeldern im Naturschutz (Zersiedlung, Intensivlandwirtschaft, Verkehr) abzulenken.
11.3 Pauschalurteile über „alle“ Neobiota sind durch eine stets art-, raum- und zielspezifische Einzelfallbetrachtung zu ersetzen, die sich an ökologischen Erkenntnissen und normativen Kriterien der Bewertung orientiert. Die erforderliche einzelfallbezogene Risikoanalyse, aufgrund derer die spezifische Invasivität von Neobiota beurteilt werden soll, bedarf der Orientierung durch Kriterien und Maßstäbe.
11.4 Der Naturschutz muss deutlich machen, dass sich Bewertungen und Maßnahmen auch mit Bezug auf Neobiota nicht direkt aus den Erkenntnissen der Ökologie ergeben können, sondern stets das Ergebnis eines gesellschaftlichen Verständigungsprozesses sind.
11.5 Werturteile sollten nicht über die Wortwahl suggeriert, sondern stets konkret benannt und begründet werden. Die Neobiotaforschung sollte sich einer Sprache bedienen, die dem Wert Freiheitspostulat der Wissenschaft gerecht wird und den Übergang zu Bewertungen deutlich ausweisen.
11.6 Bekämpfungsmaßnahmen sind gerechtfertigt, wenn ökonomische oder gesundheitliche Schäden verursacht bzw. wenn die „Eigenart, Vielfalt und Schönheit“ der Landschaften oder aber schützenswert eingestufte Arten und Biotoptypen bedroht werden. Bei Bekämpfungsmaßnahmen ist stets auf die Angemessenheit der Mittel mit Blick andere Umwelt- und Naturschutzziel sowie auch auf Tierschutzaspekte zu achten.
11.7 Auf Bekämpfungsmaßnahmen sollte verzichtet werden, wenn eindeutig abzusehen ist, dass das angestrebte Ziel praktisch unerreichbar ist, damit in der Öffentlichkeit der Eindruck von Naturschutz-Alibiveranstaltungen vermieden wird.
11.9 Angesichts des oft geringen Erfolgs von Bekämpfungsmaßnahmen sollte verstärkt auf Vorsorgemaßnahmen orientiert werden. Auf der Ebene von Vorsorgemaßnahmen ist insbesondere der kommerzielle Import von ausbreitungsfähigen Neobiota kritisch zu prüfen (Gartenpflanzen, Terrarien, Heimtiere, Saatgut usw.). Handelsrechtliche Regeln der WTO sollten derartigen Vorsorgemaßnahmen nicht prinzipiell übergeordnet werden.
11.10 Mit Blick das Vorsorgeprinzip erscheint das Inverkehrbringen gentechnisch veränderter Organismen (GVO) für land-, forst- und fischereiwirtschaftliche Zwecke aus der Perspektive des Naturschutzes problematisch.
11.11 Der Klimawandel wird die Neobiota-Diskussion vor neue Herausforderungen stellen, denn es ist sowohl mit zunehmenden biogeographischen Veränderungen zu rechnen als auch mit zunehmenden Aktivitäten, bereits vorsorgend solche gebietsfremden Nutztier- und Pflanzenarten inkl. Forstbäume einzuführen, die langfristig besser gedeihen könnten.
entnommen aus: PIECHOCKI, R., K. OTT, T. POTTHAST & N. WIERSBINSKI (2010): Vilmer Thesen zu Neobiota und Naturschutz S. 43-51 in: R. PIECHOCKI, T. POTTHAST, K. OTT & N. WIERSBINSKI (ed.): Vilmer Thesen zu Grundsatzfragen des Naturschutzes – Vilmer Sommerakademien 2001-2010. pdf 1,2 MB